Back to the roots: Yin und Yang

„Echt jetzt? Och nö! Ein Artikel über Yin und Yang!“

Das kennt doch jeder: Zu Hippie-Zeiten hatten alle dieses Zeichen um den Hals hängen, in der Pubertät nähten wir es auf unsere Schultasche um besonders tiefgründig und wissend rüberzukommen und sogar heutzutage begegnet es uns noch auf irgendwelchen esoterischen Visitenkarten oder Flyern von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern, Yoga- oder Thai-Massage-Studios. Ich darf das sagen. Ich bin selbst Heilpraktikerin. Und Hebamme.

Ich spezialisiere mich mittlerweile seit sechs Jahren in Chinesischer Medizin und wende als therapeutisches Medium bei den Frauen, die ich in Schwangerschaft und Wochenbett betreue und Klientinnen und Klienten, die ich als Heilpraktikerin behandle, hauptsächlich Klassische Akupunktur an. Ich gebe zu, auch ich war lange sehr motiviert darin das Yin-Yang-Symbol in mein Praxislogo zu integrieren und den Stempel der Esoterik auf mich zu nehmen. Aber das war es mir dann doch wiederum nicht wert. Ich bin ein Mensch, der die Logik und die Wissenschaft liebt. Chinesische Medizin beruht auf jahrhundertelangen Erfahrungen und Beobachtungen von Mensch und Natur, fernab von jeglicher Esoterik, und folgt zum Teil exakt erlernbaren Regeln. Ich bin nicht esoterisch. Das ausgeglichene Spiel zwischen Yin und Yang, es ist in der Chinesischen Medizin, nein im chinesischen Weltbild, der Inbegriff von Gesundheit. Seit ich selbst immer tiefer einsteige in dieses Weltbild, entdecke ich es überall. Und am interessantesten zeigt es sich im Menschen selbst.

„So. Ok. Ich denke ich habe jetzt verstanden, dass es sich beim Yin-Yang-Symbol nicht nur um ein Schmuckstück handelt sondern es die absolute Basis einer Weltauffassung ist. Und jetzt?“

Ich werde es mit Leben füllen. Yang. Yang ist der Morgen. Yang ist die Aktivität, das Aufrichten, die Sonne. Es ist das Feuer, es ist trocken. Yang lässt uns voranschreiten, die Dinge in Angriff nehmen, Visionen haben, in die Zukunft schauen. Yang lässt uns schreien, hupen, fluchen. Und lachen. Es ist das Licht, die Wärme, der Himmel, das Oben. Yang ist unsere Energie, das immaterielle.

Aber ohne das Yin kann es kein Yang geben. Yin ist der Abend, die Ruhe, das Hinlegen und Niedersinken, der Mond. Yin bremst, entschleunigt, lässt uns nach Innen schauen. Schlafen. Yin ist langsam, hemmt. Yin lässt uns Pause machen, uns zudecken. Yin ist die Trauer, die Angst, die Tränen. Yin ist die Dunkelheit, die Kühle, die Erde, das Unten. Yin ist die Struktur, die Substanz, es ist unser Körper, das materielle. Yin ist das Wasser, es ist nass.

Aber nichts und niemand ist gänzlich Yin oder gänzlich Yang. Jeder Aspekt hat immer beide Anteile in sich. So ist der Mann Yang, neben der Frau, Yin. Der Mann ist aber Yin, neben seinem Kind, Yang. Der Schlaf ist Yin in Relation zur der Aktivität Yang. Aber er ist Yang, in Relation zum Tod, Yin.

Ebenso enthält Yang den Keim von Yin, und umgekehrt. Dies zeigt der kleine weiße beziehungsweise schwarze Punkt. Der sexuelle Akt ist sehr „yangig“ und lässt das Leben in seiner reinsten Yin-Form entstehen. Einen Embryo. Still, passiv, ausharrend, nass, tief, materiell.

Die Geburt ist ebenfalls ein wunderbares Schauspiel von Yin und Yang: Es ist Nacht. Ruhe. Entspannung und Schlaf. Die hochschwangere Frau im vollsten Yin-Zustand befindet sich in der Yin-reichsten Phase des Tageszyklus. Das Yin in der Frau erreicht sein Maximum und bildet die Grundlage für den Beginn einer Yang-Explosion, insofern der Keim schon da ist, die Geburtsbereitschaft. Der Wehenbeginn. Kontraktionen, Aktivität, Bewegung, Lautstärke, Schweiß, alles nimmt zu. Das Yang nimmt zu. Aber alles unterbrochen durch einen kurzen Zustand des Yin. Einer Pause. Denn ohne Wehenpause und Entspannung, keine neue Anspannung. Und schließlich auf den „yangigsten“ Moment der Geburt, der letzten Wehe, der letzten Anspannung, der letzten Kraftexplosion, folgt wieder Yin. Ein kleiner winziger Mensch, hilflos, nass, nackt, auf dem Bauch der Mutter. Sie ist ruhig, in sich zurückkehrend, still, vielleicht weinend. Yin und Yang. Sie sind untrennbar und doch gegensätzlich. Und sie sind voneinander abhängig. Es gibt keinen Morgen ohne einen Abend. Es gibt keine Vision, keinen Neuanfang, wenn nicht etwas anderes dafür losgelassen werden konnte.

Gesundheit sei die Balance zwischen Yin und Yang. Wirklich? Tatsächliche Balance bedeutet Stillstand. Wir müssen also in die Dysbalance geraten um voranschreiten zu können, das ist das Leben und das ist die Normalität. Allerdings sollte diese Dysbalance, ob zugunsten von Yin oder Yang, nur kurzweilig bleiben, denn Yin und Yang verbrauchen sich auch gegenseitig und das System Mensch kann scheinbar plötzlich in eine krankhafte Schieflage geraten. Beispielsweise führt übermäßiges Arbeiten, Yang, ohne Ruhepausen zu einem extremen Mangel an Körperenergien, Yin. Wer schonmal ein Burnout-Syndrom erlitten hat weiß worüber ich spreche. Übermäßiges Radfahren oder Jogging, Yang, bewirkt einen sehr langsamen Puls und ein (zu) großes Herz, Yin. Übermäßige Emotionen oder übermäßiges Denken, Yang, erschöpfen die Körperenergien, Yin. Übermäßige sexuelle Aktivität, Yang, zehrt körperlich aus, Yin. Wer von uns schon ein Kind oder Kinder geboren hat und/oder sie gestillt hat weiß, dass ein Verlust an Blut und Substanz durch Geburt und Stillen, vielleicht auch in Kombination mit schlaflosen Nächten, eine Yin-Schwäche mit sich bringt. Die unmittelbaren Folgen können eine Überreaktion des Yang sein, wie Gereiztheit oder unproduktiver Aktivismus. Müdigkeit, Schwere, Antriebslosigkeit oder gar depressive Zustände können die Folge einer Yin- und Yang-Schwäche sein.

Natürlich liegt es maßgeblich an unserer Lebensführung, diesen Ausgleich selbst mehr oder weniger herbeizuführen und zu beeinflussen. Wir können uns die Frage stellen, ob eine Änderung in der Ernährung (Details dazu wären ein nächstes großes Thema), in der sportlichen Betätigung, in der Arbeit, oder im Gefühlsleben eine bessere Stabilität herbeiführen könnte. Als Mutter zweier kleiner Kinder weiß ich allerdings selbst nur zu gut, dass es im Leben auch manchmal Umstände gibt, die nicht einfach verändert werden können, sondern die einfach so sind wie sie sind.

Aber: Das Thema wäre nicht das Thema, wenn es dazu nicht auch eine gute Nachricht gäbe. Vor, während oder nach schwierigen und zehrenden Phasen im Leben kann sowohl das Yin als auch das Yang gestärkt werden (einen kleinen Umriss dazu hier). Manchmal erfordert es ein Umdenken oder sogar eine Bruchlandung, bevor eine Veränderung wirklich herbeigeführt wird. Das Yin und Yang leben darf und muss jeder selbst, und beim Hervorkitzeln und Kultivieren gibt es Therapien.

… Häufig fahre ich auf dem Weg zu Hausbesuchen mit dem Fahrrad an einem Thai-Massage-Studio vorbei. Vorne am Schaufenster hängt ein großes Bild, darauf das Yin-Yang-Symbol. Dann halte ich kurz inne, trete weniger fest in die Pedale und gleichzeitig ein Stück zurück aus der Yang-lastigen Welt des Alltags und lasse mein Yin kurz aufflackern, bevor es wieder weiter geht.

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