Was GENAU bewirkt eigentlich „geburtsvorbereitende Akupunktur“?
Von meinen schwangeren Klientinnen wird mir häufig die Frage nach der Wirkungsweise der sogenannten „geburtsvorbereitenden Akupunktur“ gestellt.
Nun ja, beginnen wir doch einfach einmal mit den harten schulmedizinischen Fakten:
Diese Art der Akupunkturtherapie wird auch „Mannheimer Schema nach Römer“ genannt. Und zwar wurde im Jahr 1996/1997 an der Universitätsfrauenklinik Mannheim eine Untersuchung an nahezu 1000 Schwangeren durchgeführt. Dabei wurde die durchschnittliche Geburtsdauer von Patientinnen mit Akupunkturtherapie einer Kontrollgruppe von Patientinnen ohne Akupunkturtherapie entgegengestellt. Diese Kontrollgruppe bestand selbstredend aus der gleichen Anzahl an Gebärenden und die Geburten fanden ebenfalls im gleichen Erhebungszeitraum in der Mannheimer Klinik statt (vgl. Römer 2008: 130f). Es zeigte sich, dass die mittlere Geburtsdauer nach Akupunkturtherapie 470 Minuten, und die ohne vorherige Akupunkturtherapie 594 Minuten betrug. Somit hatte sich die Geburtsdauer um mehr als 2 Stunden verkürzt (vgl. Römer 2008: 130). Bei näheren Untersuchungen zeigte sich eine signifikante Verkürzung des Gebärmutterhalses (Zervix) und eine Erweichung des Muttermundes (vgl. Römer 2008: 132) vor der Geburt. Somit konnte aus dem Untersuchungsumfang geschlossen werden, dass die Verkürzung der Geburtsdauer auf einer Verkürzung der Eröffnungsperiode beruht. Die Eröffnungsperiode ist die Phase der Geburt, in der der Muttermund durch Wehenkraft und den dadurch zustande kommenden Druck des kindlichen Köpfchens nach unten passiv aufgedehnt wird. Der Geburtsbeginn kann hiermit jedoch nicht beeinflusst werden!
Ok. Soweit so gut. Verkürzung der Geburt. Klingt gut!
Und wie sieht diese Akupunkturtherapie genau aus?
Zunächst einmal soll gesagt werden, dass es sich dabei um ein Schema handelt. Das heißt, jede Schwangere erhält dieselbe Akupunkturtherapie unabhängig von ihrer individuellen Disposition. Aber nur, insofern es keine Kontraindikationen gibt. Dies sind medizinische Gründe, die gegen eine solche Akupunkturtherapie sprechen können, wie beispielsweise ein geplanter Kaiserschnitt (primäre Sectio caesarea), ein tief sitzender Mutterkuchen (Placenta praevia), eine Beckenendlage mit geplantem Kaiserschnitt sowie bekannte Gerinnungsstörungen der Mutter (vgl. Römer 2008: 131).
Ab der 36. Schwangerschaftswoche wird einmal wöchentlich akupunktiert und das Schema umfasst insgesamt 4 Therapiesitzungen, die in etwa 20 Minuten dauern.
Welche Akupunkturpunkte werden denn genadelt und was bewirken sie in chinesischer Sicht?
Das Grundprinzip in der Auswahl der Punkte liegt zunächst einmal darin, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Yin und Yang im Körper herzustellen (mehr über Yin und Yang in meinem Blog hier). In Relation zur Geburtsenergie, Yang, ist die körperliche Funktion des Haltens in der Schwangerschaft Yin. Yin zu stärken bedeutet den Aufbau von Blut, Körpersäften und Substanz zu fördern. Dieses Prinzip ist leicht verständlich, wenn man an die bevorstehende Geburt denkt, die mit einem Substanzverlust natürlicherweise einhergeht. Ein normaler Blutverlust von 200 – 300 ml und das anschließende extrahieren der Muttermilch aus dem wertvollsten des Blutes sind alles Körpersäfte, die einen Yin-Aspekt darstellen und die es anzuregen gilt, um nur wenige Aspekte dieses Prinzips zu nennen. Dies geschieht in den ersten beiden Akupunktursitzungen.
In den letzten beiden Sitzungen kommt ein weiterer ganz spezieller Punkt mit Yang-Aspekt hinzu um den Körper der Schwangeren in eine Aktivität zu führen: die Geburt. Yang steht für Qi, also Kraft, Funktion und (Wärme-)energie. Nun gibt es über Einhundert Akupunkturpunkte mit Yin-Charakter sowie Yang-Charakter. Welcher davon soll es denn sein? Nun ja, bei dem Punkt mit Yin-Aspekt wurde eine sehr elegante Lösung gefunden:
Es handelt sich um einen Punkt auf der Milz-Leitbahn. Er hat sehr viele Eigenschaften. Der 6. Punkt der Milz-Leitbahn (auch MP 6 genannt, Yin) gehört zum Element Erde. Die Erde mit den Organen Milz und Magen stellt den größten Teil unserer Energielieferung dar. Die Hauptaufgabe von Milz und Magen ist es, Nahrung in Substanz und Qi umzuwandeln. Zudem stellt die Erde unsere Körpermitte dar, und wird in der Schwangerschaft hohen Anforderungen ausgesetzt. Schwangere leiden so häufig unter einer „Schwäche der Mitte“, dass dies oft sogar als natürlich eingestuft wird. Dies ist nur ein Bruchteil aller Erd-Aspekte. Eine ausführlichere Beleuchtung des Elements Erde gibt es hier.
Das elegante an diesem Punkt ist, dass weitere zwei Yin-Leitbahnen sich an ihm kreuzen. Drei Fliegen mit einer Klappe quasi. So wird hier auch die Leber-Leitbahn angesprochen. Ihr Leitbahnverlauf verrät schon, dass sie wichtig ist für viele Vorgänge während Schwangerschaft und Geburt, denn sie verläuft um beziehungsweise zu den Genitalien. Außerdem gehört sie zum Element Holz. Wer diesen Blogbeitrag bereits gelesen hat weiß um die wichtige Holzqualität, die körpereigenen Energien geschickt zu bündeln und genau zum passenden Zeitpunkt zielgenau und willensstark zu mobilisieren. Wichtig in Sachen Geburtsbeginn, Wehenkoordination aber auch Mut und Zuversicht. Als Drittes die Nieren-Leitbahn. Die Nieren sind dem Element Wasser zugeordnet (auch hier verweise ich auf einen weiteren Blogbeitrag in der Zukunft) und speichern unsere Essenz. Damit ist in chinesischem Sinne unsere grundlegende Konstitution, Stärke und Vitalität gemeint. Nur durch diese kann Wachstum, Sexualität, Fruchtbarkeit, Geburt und Reifung stattfinden (vgl. Maciocia 2017: 154).
Um nun zum dreifach „yinnigen“ Punkt MP 6 einen Gegenpol herzustellen, kommen zwei sehr wichtige Yang-Punkte hinzu:
Ma 36: Der 36. Punkt auf der Magen-Leitbahn. Der Yang-Partner der Milz im Element Erde. Der Inbegriff von Stabilität, Zentrierung und Ernährung (vgl. Josef Viktor Müller 2004: 82). Sein erster Name lautet „Göttlicher Gleichmut“ und lässt schon die psychisch ausgleichende und harmonisierende Wirkung erahnen. Zweitens nennt man ihn auch „Dritter Weiler am Fuß“. Ein ‚Weiler‘ ist ein alter Begriff für eine kleine Siedlung, in dem sich ein Wanderer nach einer langen Reise ausruhen kann. Er spendet Kraft.
Gb 34: Der 34. Punkt der Gallenblasen-Leitbahn. Er ist der Yang-Partner der Leber und dem Element Holz zugeordnet. Als chinesischer Meisterpunkt für Koordination und Bewegung der Muskeln und Sehnen soll er die physische Muskelkraft der Gebärmutter unterstützen.
Und zum guten Schluss kommt in den letzten beiden Sitzungen noch der 67. Punkt der Blasen-Leitbahn am kleinen Zeh hinzu. In der Literatur findet man ihn teilweise unter dem Namen „Schwierige Geburt“.
„Auf der psychischen Ebene kann dieser Punkt angebracht sein wenn ein Mensch erschöpft ist vom Aufrechterhalten einer Fassade der Stärke und sie durch Blase 67 endlich gehen lassen kann, indem er eine mehr Yin geprägte Haltung des Vertrauens statt der ständigen Kontrolle einnimmt.“ (vgl. Josef Viktor Müller 2004: 173) Besser kann ich nicht zusammenfassen, was den Geburtsbeginn und den Geburtsverlauf positiv beeinflusst und leider immer weniger beobachtet werden kann. Seine sehr dynamische und akute Wirkungsweise auf die Gebärmutter unterstützt den Geburtsvorgang schlussendlich.
Neben weiteren positiven Einflüssen dieser Akupunktur auf Beschwerden wie Sodbrennen, Schlafstörungen, Wassereinlagerungen und Schmerzen kann ich aus jahrelanger eigener Erfahrung ebenfalls hinzufügen, dass es sich sehr positiv auf den Heilungsprozess nach der Geburt auswirkt. Das Energieniveau der Wöchnerin ist höher. Dies zeigt sich in erster Linie dadurch, dass die Muttermilchbildung schneller angeregt wird. Der Säugling kann schneller wieder an Gewicht zunehmen.
Quellennachweise:
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Römer 2008; Akupunktur für Hebammen, Geburtshelfer und Gynäkologen, 4. Auflage, Hippokrates
Maciocia 2017; Grundlagen der Chinesischen Medizin, 3. Auflage, Urban & Fischer
Josef Viktor Müller 2004; Den Geist verwurzeln, Band 1, Die Namen der Akupunkturpunkte als Bindestriche der Psycho-Somatik, 2. Auflage, Verlag Müller & Steinicke München